Seit Jahren schon war die Idee „Granny Aupair“ in meinem Kopf. In der Pension sollte es so weit sein, das war immer mein Plan. Im Sommer 2023 setzte ich ihn um. Ich sondierte die Möglichkeiten im Freundeskreis und Internet und fand einige interessante Destinationen und Familien. Um herauszufinden, welche Familie am besten zu mir passen könnte, gab es mindestens ein Telefongespräch mit jeder Familie. Nach diesen Gesprächen engte sich der Kreis auf zwei Familien ein. Schlussendlich entschied ich mich für eine berufstätige alleinerziehende Mutter mit Kleinkind. Ich fand, diese Familie könnte meine Unterstützung wirklich gut gebrauchen.
Obwohl die telefonischen und schriftlichen Kontakte mit der Mutter vor meiner Abreise alle sehr freundlich und gewinnend waren, so fuhr ich doch mit einer gewissen Portion Unsicherheit weg.
- Was wird mich wohl die nächsten Wochen erwarten?
- Wie wird der Zweieinhalbjährige auf mich reagieren? Wie die Mutter?
- Gelingt es mir, mit beiden rasch eine Vertrauensbasis aufzubauen?
- Haben wir ähnliche Vorstellungen von Erziehung?
- Wie wird der Alltag von uns dreien sein?
- Wie wird es mir mit meiner neuen Funktion als „Oma auf Zeit“ und meinen damit verbundenen Aufgaben gehen?
Fragen wie diese beschäftigten mich nicht erst während der Zugfahrt. Ich wusste zwar von meinen Erfahrungen als kurzfristige Leihoma, dass es mir Freude bereitet, mit Kindern Zeit zu verbringen und ich gut mit Kleinkindern umgehen kann. Doch man weiß ja nie. Und meine Tätigkeit als Leihoma beschränkte sich bisher jeweils nur auf einen Nachmittag pro Woche für einige Monate. Jetzt würde ich 24 Stunden 7 Tage die Woche mit der Familie eine Zeitlang leben. Noch dazu in einem anderen Land!
Während der Anreise regnete es. Als ich am Zielbahnhof ausstieg, schien die Sonne. Das nahm ich als gutes Omen. Eine Hürde war noch zu nehmen: eine Möglichkeit für den Kauf der Straßenbahnkarte zu finden. Ein freundlicher junger Mann, den ich um Hilfe bat, suchte einen Fahrkartenautomaten für mich und half mir noch die Fahrkarte zu lösen. Nach ca 35 Minuten Fahrt war ich am Ziel. Das Haus liegt an einer stark frequentierten Straße, die zwischen den beiden Fahrstreifen einen breiten Grünstreifen mit hohen alten Bäumen hat. Durch einen kleinen Vorgarten kam ich zur Haustür. Ich läutete und ober mir am Balkon erschien eine freundlich lächelnde Frau, die mich herzlich begrüßte. Sie öffnete daraufhin die Haustüre, kam mir entgegen und half mir mein Gepäck über die Stiegen zu tragen. Die Wohnung liegt in einem Altbauhaus und verfügt über vier Räume. Mein Zimmer war sehr groß, Platzangst würde nicht aufkommen. Die Matratze des Bettes war für meinen Rücken sehr angenehm, nicht zu weich und nicht zu hart. In meinem Alter ist das Bett ja häufig der wichtigste Einrichtungsgegenstand, um sich längerfristig an einem fremden Ort wohlzufühlen.
In der Wohnküche erwartete mich Tee. Der Kleine war von seinem Nachmittagsschlaf noch nicht munter. Mutter und ich unterhielten uns in der Küche und beschlossen, später, wenn ich ausgepackt hatte, zu dritt eine Erkundungsrunde im Wohnbezirk zu machen und dabei einen der nahen Spielplätze zu besuchen.
Während ich in meinem Zimmer meinen Koffer auspackte, hörte ich schon von nebenan eine leise Kinderstimme. Plötzlich ging meine Türe auf und ein kleiner Blondschopf mit blauen Augen schaute neugierig herein. Wir begrüßten uns. Er fremdelte nicht. Nach einigen Minuten, die er im Türrahmen stand und mir beim Auspacken zuschaute, lud er mich in sein Spielzimmer ein und zeigte mir seine Bibliothek. Er nahm eines der Bilderbücher, setzte sich auf die Couch und deutete mir, ich solle neben ihm Platz nehmen. Dann schlug er das Buch auf und zeigte mit dem Kommentar „Da lesen!“ auf den Text. Diesen Satz sollte ich noch oft während meines Aufenthalts hören. Seine helle Stimme und der Satz klingen mir noch immer im Ohr. Ich muss jedes Mal lächeln, wenn mir der Satz in den Sinn kommt. O ja, er war ein genauer und strenger Zuhörer! Habe ich mir erlaubt ein Wort einzufügen oder einen Satz auszulassen, erfolgte sofort wieder die Anweisung „Da lesen!“. Das verstand ich anfangs nicht, da ich ja ohnehin las. Seine Mutter erklärte mir später, er würde jedes Buch auswendig kennen und, wenn etwas nicht so wäre, wie er es gewohnt sei, dann käme sofort die Anweisung: „Da lesen!“, sollte heißen: „Lies, was da steht und nichts anderes!“.
Am nächsten Morgen brachten Mutter und ich den kleinen Blondschopf in den Kindergarten. Ich wurde den MitarbeiterInnen als Granny Aupair vorgestellt. „Granny Aupair“, das hatten sie noch nie gehört. Umso interessierter wandten sie sich mir zu. Es wurde in den Unterlagen von Erik vermerkt, dass ich in den nächsten Wochen Erik holen und bringen dürfe. Mutter und ich vereinbarten, dass wir uns um 14h30 wieder bei dem Kindergarten treffen und Erik gemeinsam abholen wollten. Ab dem dritten Tag brachte ich ihn morgens alleine und holte ihn nachmittags meistens alleine ab.
Zwischen den Fixzeiten des Kindergartens erkundete ich die Stadt, die einzelnen Stadtvierteln, die Museen, die Parks. Rasch fand ich mein Stamm-Kaffeehaus, wo ich gern ein Frühstück zu mir nahm und die Zeitung las. Ich fühlte mich wohl in der Stadt. Ich fand, es ist eine lebenswerte Stadt. Die Menschen begegneten mir (im Gegensatz zu meiner Heimatstadt) fast ausnahmslos sehr freundlich, hilfsbereit und rücksichtsvoll. Aggressives Verhalten von Autofahrern, Fußgängern oder Radfahrern habe ich keinen Tag erlebt.
Den Nachmittag verbrachten Erik und ich, indem wir mit dem „Erik-Taxi“, wie ich seinen Kinderwagen nannte, die Gegend erkundeten. Erik war etwas fußfaul. Gehen war nicht Seines. Lieber ließ er sich durch die Gegend kutschieren und betrachtete alles Interessante vom Erik-Taxi aus. Dabei waren gezielt Baustellen- und Straßenkreuzungenaufsuchen täglich am Programm. Baufahrzeuge, wie Bagger, Walzen, Kipplaster und Betonmischer sowie Kräne waren mindestens so interessant wie Straßenbahnen, Gelenksbusse, Motorräder, Autos ohne Dach und LKW’s. Das genau zu beobachten hatte großen Erlebniswert und konnte schon mindestens eine halbe Stunde Zeit erfordern, auch wenn es regnete. Ich kenne jetzt den Unterschied zwischen Schaufel-, Löffel- und Saugbagger. Ganz besonders interessant war dann eines Tages die Müllabfuhr. Die richtige Oma hatte als Spielzeug für Erik ein oranges Müllabfuhrauto organisiert. Mama bestellte die dazu passenden Mülltonnen im Internet und fortan wurde täglich zuhause Müllabfuhr gespielt. Und, wenn wir die echte Müllabfuhr in Aktion auf der Straße sahen, dann war das der Höhepunkt des Tages.
Natürlich waren auch die Spielplätze in der Umgebung ein Ziel an unseren Nachmittagen. Als ich ankam, war eher nur Sandspielen interessant. Nach einigen Wochen kam das Interesse für das Rutschen und Schaukeln dazu. Gegen Ende meines Aufenthaltes wurde schon eifrig geklettert. Die Motivation zum Ballspielen war nicht sehr ausgeprägt. Hin und wieder Fußball- oder Basketballspielen in der Wohnung, wobei der Türrahmen das Tor war und ein leeres Regalfach als Basketballkorb diente. Schon viel mehr Freude machte das Hüpfen, insbesondere von der breiten Fensterbank in meinem Zimmer auf mein großes Bett. Das war das Bewegungsprogramm an Schlechtwettertagen.
Zuhause gab es mindestens 150 Plastiktiere aller Art in verschiedenen Größen. Diese wurden liebend gern am Boden im Spielzimmer nach unterschiedlichen Kriterien aufgestellt. – Welche Tiere leben am Bauernhof? Welche Tiere leben im Wald? Welche Tiere leben im Zoo? Welche Tiere leben am Land? Welche im Wasser? Welche Tiere können fliegen? Welche Tiere sind gefährlich? … Mama und Erik bauten ein schönes großes Giraffenhaus aus Legosteinen, das eines Tages zu einem Parkhaus für die zahlreichen Spielzeugautos umgebaut wurde.
Ja und eines Tages kam dann mit der Tante und dem Onkel ein Spielzeug-Parkhaus aus Holz. Es hatte sogar einen Lift für die Autos! Jetzt wurde fleißig mit den Spielzeugautos ins Parkhaus gefahren – meist fanden sich alle auf der obersten Ebene ganz dicht aneinandergereiht geparkt. Ab diesem Zeitpunkt wurden auch die Parkhaus- und Parkgarageneinfahrten, die wir am Weg bei unseren Erkundigungen fanden, genau und lange studiert. Ein besonderes Erlebnis war, wenn wir sahen, wie ein Wagen rein- oder rausfuhr und sich der Schranken hob und senkte.
An Schönwettertagen war der erste Satz, den ich hörte, wenn ich Erik vom Kindergarten abholte „Wir wollen Fische füttern gehen“. Somit war das Nachmittagsprogramm schon klar. Wir machten uns auf den Weg zu einem nahen Park, wo es einen kleinen Teich mit Fischen gab. Dort wurde dann eifrig die Semmel vom Vortag in kleine Stücke zerteilt oder zerbröselt und anschließend ins Wasser geworfen. Wir entdeckten auch zwei kleine Wasserschildkröten, und hin und wieder kam ein Reiher angeflogen, der sich in der Mitte des Teichs auf eine kleine Steinstatue setzte und sein Federgewand putzte. Die Fische waren gegen Ende meines Aufenthalts so dick, dass ich die Semmel rationierte, da ich Angst hatte, die Fische würden bald zerplatzen, wenn wir sie weiterhin so intensiv füttern. Die Natur sorgte jedoch eines Tages für eine Fastenperiode für die Fische. Es tauchte ein Entenpaar mit drei winzig kleinen Küken auf. Entenpapa vor allem war sehr gierig, das Brot zu bekommen. Er schnappte teilweise den Fischen die Brotstücke noch aus den offenen Mäulern. Die Fische zogen sich zurück, nahmen Abstand und überließen fortan den Enten das Brot.
Erik war ein überaus hüftfreundliches Kind – wie seine Mutter ihn eines Tages charakterisierte. Damit meinte sie, es wäre für mich als Granny nicht notwendig, häufig am Boden zu sitzen, mit Erik zu spielen und rasch aufzustehen aus dem Sitzen am Boden. Das Knien und Sitzen am Boden, um gemeinsam zu spielen, war nicht Hauptbestandteil meiner Tätigkeit. Vielmehr verbrachten der kleine Blondschopf und ich zahlreiche Stunden mit Bücherlesen und Bücheranschauen auf der Couch. Die Auswahl an eigenen Büchern war bereits sehr groß, wurde aber immer wieder durch Bücher aus der Bücherei erweitert.
Dr. Zoo, wie ich ihn, ob seines großen Interesses und Wissens über Tiere gern nannte, hatte bald herausgefunden, dass es in meiner Fotogalerie am Handy Fotos von Katzen und einem Hund gab. Er liebte besonders das Video von den kleinen Katzen, die sich unter der Decke versteckten und sich dann in den Fransen darin verhedderten und lange kämpfen mussten, dass sie sich wieder befreiten konnten. Emma, der Hund von Freunden, war auch fast täglich am Programm „Emma schauen!“ klingt sein Wunsch noch heute in meinem Ohr oder „Susi Katze schauen!“ – die Kurzvideos von einer Freundin, die u.a. eine beim Duschkopf trinkende Katze zeigen. Diese Fotos und Videos stellten sich schon nach wenigen Tagen als Motivationsmittel für den kleinen Blondschopf heraus, um die Stufen im Stiegenhaus zügig alleine zu gehen. Nicht immer wirkte jedoch das In-Aussicht-gestellte Fotoschauen gleich. An manchen Tagen dauerte es bis zu 30 Minuten bis wir vom Erdgeschoß in den ersten Stock kamen. Ich verkürzte mir die Wartezeit auf den Stufen sitzend mit Lesen in einem Buch.
Erik konnte schon gut laufen, wollte aber unbedingt getragen werden. Mit allen Mitteln versuchte er es. Doch ich wusste, mein Rücken hat seine Tücken. Erik über die Stufen zu tragen, das wäre für meine Wirbelsäule zu viel gewesen. Die Aussicht, oben im Wohnzimmer die Tierfotos anschauen zu können, war dann doch immer wieder überzeugend für Erik, wenngleich hin und wieder erst nach geraumer Zeit, und er kam manchmal auf zwei Beinen, manchmal auf allen Vieren in den ersten Stock.
Beeindruckt hat mich Eriks Merkfähigkeit. Nachdem er nur einmal ein Foto gesehen hatte und er den Namen der Person gehört hatte, die auf dem Foto abgebildet war, nannte er bereits den Namen beim nächsten Anschauen des Fotos selbst oder er sagte „Emma mit Susi in der Hundeschule“. So ist nicht nur Emma, der Hund meiner Freunde für Erik ein Begriff, er kennt auch die Namen und Gesichter der Besitzer von Emma. Und ich bin sicher, wenn ich in einigen Monaten Erik und seine Mutter besuchen fahre oder sie mich besuchen kommen, wird einer seiner ersten Sätze sein: „Emma schauen!“.
TV-Gerät gab es in der Wohnung bewusst keines. Computer oder Handy waren für Erik nur selten erlaubt um Videos zu sehen. Diese Filme waren meist nur Tierdokumentationen oder Kurzvideos von der Müllabfuhr. Ziel war, passive Unterhaltung von Erik zu vermeiden.
Was fällt mir noch so ein, wenn ich an die vergangenen Wochen denke? Was haben Erik und ich noch alles gemacht?
So manchen Regentag verkürzte das stundenlange Sitzen am Fensterbrett (Erik) und Stehen am Fenster (ich), um die zahlreich vorbeifahrenden Autos zu beobachten, wobei jeder Gelenksbus, jedes Polizeiauto, jeder Krankenwagen, Lastautos jeder Art mit Begeisterung von Erik angekündigt wurden. Wir übten auf diese Weise die Autotypen und die Farben.
Hunde, die in der Grünzone zwischen den Fahrbahnstreifen vor unserem Haus, spazieren geführt wurden, waren eine willkommene Abwechslung zu den Autos.
Obwohl das Wetter während meines Aufenthaltes wunderschön war, gab es doch den einen oder anderen Regentag, manchmal auch aufeinanderfolgend. Wir mussten uns also zuhause beschäftigen. Stundenlanges Lesen und Bilderbücher ansehen war irgendwann für uns beide zu viel. Also versuchte sich Granny Aupair doch im Bodenturnen oder in der Bodengymnastik, um gemeinsam Lego und Duplo zu spielen, eine große Zoolandschaft mit den Plastiktieren aufzustellen oder Autos auf dem Teppich, der eine Straßensituation abbildete, hin und her zu bewegen.
Auch so manche Polsterschlacht verkürzte uns die Stunden zuhause.
Der Mutter von Erik möchte ich ein großes Kompliment aussprechen. Sie ist alleinerziehend und in einem sehr fordernden Beruf tätig. Ihr Umgang mit dem Kind ist meiner Wahrnehmung nach sehr wertschätzend, respektvoll, vor allem liebevoll und humorreich sowie unkompliziert. Ihre Kreativität und ihr Einfallsreichtum, wie sie ihren Sohn anleiten und passend fördern und fordern kann, haben mich ebenfalls sehr beeindruckt.
Das Erlebnis „Granny Aupair“ war in vieler Hinsicht interessant und bereichernd. Es war kein Experiment, es war eine Lebenserfahrung, die von mir gerne wieder einmal wiederholt wird. Oma hofft, dass der Kontakt zu Erik und seiner Mutter trotz der großen räumlichen Distanz nicht abreißt.